Ohrenöffner-Tag 2015

Am 12. Juni 2015 veranstalteten wir – Studenten und Dozenten von MenschMusik Hamburg – erstmalig den Ohrenöffner-Tag. Am Vormittag gab es verschiedenste Experimente, Performances, und Hörenswürdigkeiten in der Hamburger Innenstadt zu erleben und am Nachmittag eine abschließende Aktion auf dem Rathausmarkt.

Wohin wir am Vormittag ausschwärmten und welche Erfahrungen wir beim Ohrenöffnen machten, davon erzählen wir hier (noch sind nicht alle Beiträge da, sie werden hier nach und nach erscheinen):

 

Hörort: Brücke über der Alster in Ohlsdorf

„Ob die Alster wohl schon einmal eine Komposition von Arvo Pärt gehört hat?
Am 12. Juni 2015 hatte sie Gelegenheit dazu – und mit ihr eine Vielzahl von Spaziergängern, Hunden, Joggern, Rad- und Bootsfahrern, die an eben diesem Vormittag an der Alster unterwegs waren. Nicht irgendwo an der Alster: unter der Brücke der U1 bei Klein Borstel haben sich sechs Studenten und Dozenten von MenschMusik Hamburg auf die beiden Uferseiten verteilt – zwischen ihnen der vorbeiziehende Fluss, über ihnen die breit-gebogene Brücke, an deren grauem Beton sich glitzernd-flirrend das Wasser spiegelte.
Dieser Ort ist bekannt für sein sagenhaftes Echo und lädt schon von sich aus die vorbeiziehenden Passanten zu mehr oder weniger artikulierten Klangexperimenten ein – denn wo hat man das sonst schon im Leben – einen Raum, wo das Hinein-getönte auf Resonanz stößt und sogar wieder zurückschallt?
Noch schöner ist es, wenn nicht nur das Eigene wie ein Bumerang zurückkehrt, sondern wenn es im Fortsein eine Art Begegnung, Antwort und Verwandlung erfahren durfte.
Für diesen Dialog aus „etwas in den Brückenklangraum hineintönen“ – und horchen, was sich da verwandelt und zurücktönt, versuchten wir unsere Ohren und die Ohren der vorbeiziehenden Menschen zu öffnen. Arvo Pärts Komposition „Summa“ für zwei Geigen, Bratsche und Cello scheint für dieses Experiment sehr geeignet, denn das Stück lebt aus diesem Wechselspiel von zwei höheren und zwei tieferen Streichinstrumenten, die zusammen wie an einem gemeinsamen Klangfaden spinnen. Es ist nicht immer ein gemeinsamer Faden – manchmal lösen sich die höheren, manchmal die tieferen Stimmen heraus – die einen auf dem einen Ufer, die anderen auf dem anderen Ufer stehend.
An diesem hallenden Ort war es herausfordernd, die Mitspieler jenseits des Flusses zu hören und ein Gespür für die ganz anderen Klang- und Zeitverhältnisse zu entwickeln. Wie lange kann man zwischendurch in die Stille gehen, ohne dass der gemeinsame Klangfaden reißt? Und welche farbigen Fäden mischen sich mit hinein, durch dasjenige, was in die Stille hineintönt?
Wir erlebten, wie dieser Klangfaden im Spielen immer reicher und reicher wurde und dass alltägliche Geräusche wie Schritte, Hundegebell, ein vorbeifahrendes Fahrrad, Vogelgezwitscher oder eine abbremsende U-Bahn als Teil dieser Komposition neu hörbar wurden. Dass diese Stille anders war als die Stille, die sonst unter der Brücke herrscht, merkten wohl auch die Passanten –
zumindest hörte der ein oder andere auf zu gehen
und blieb im auf-hören lieber einmal stehen…“

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„Das Quartett spielt „Summa“ von Arvo Pärt. Zwei Celli und zwei Geigen stehen sich gegenüber auf den beiden Seiten unter der Brücke. Ich stehe auf der Seite der Geigen und halte ihre Noten fest, weil ein leichter Wind sich einmischt. Der Klang von vorne und hinten im Zusammenspiel mit der Brücke und dem Wasser erfüllt meine Ohren. Im Hintergrund sind Vögel, die U-Bahn, Fahrradfahrer und ein lautstarker Hund zu hören. Alles mischt sich zu einem unerhörten Gesamtklang, besonders in den Pausen, wenn das Quartett aufhört und die Umgebung laut wird. Manche Menschen, die unter die Brücke kommen bleiben stehen, andere wundern sich oder sind sichtbar gerührt von dem entstehenden Klang.“

 

Hörort: Tunnel unter der Kennedy-Brücke und im alten Elbtunnel

„Unter der Kennedy Brücke füllten wir den Raum zwischen den Ufern mit improvisierten Klängen von Fagott, Klarinette und Alphorn und überraschten die Touristen auf ihren Bootsrundfahrten auf der Alster. In diesen Klangraum über dem Wasser mischten sich die quitschenden S-Bahnen, die brausenden Autos und das Martinshorn der Not- und Polizeiwagen über unserern Köpfen. Dies lud besonders dazu ein, voll mit einzusteigen in dieses „Tatüü-Tataa“, es steigerte und gleichzeitig verstärkte unser Spielen ins Unermessliche. Eine starke Energie riss uns mit und nahm uns noch ein Stück weit fort, bis das Martinshorn in der Ferne verklungen war. Diese Energie schien sich uns zu offenbaren, wenn wir uns ganz mit ihr verbündeten. Wir nahmen jede weitere Gelegenheit dazu wahr und unser Erlebnis bestätigte sich aufs Neue.“

 

„Es war schön, im alten Elbtunnel die Besucher zu sehen, die erst erstaunt auf- hörten und dann die Ohren spitzten, um den Klang zu orten, den sie wahrnahmen. Die Klarinettistin war nicht sichtbar.

Verdutzte Fragen der Tunnelbesucher: Wo kommt denn der Gegenklang zu dem Alphorn her??
Hier wurden wirklich Ohren geöffnet!

Und ebenfalls im alten Elbtunnel: dumpfe, wohlklingende Töne wie von einem Schiff im nahen Hafen mischten sich mit klaren Klarinettentönen und durch diese kristallisiert sich das Schiffshorn erst zu einem ganz natürlichen Naturklang – dem eines Alphornes. Hoch oben auf der Balustrade unter der Kuppel des Lastenzugbereiches des Tunnels sehen wir nun das hier in Hamburg fremde und doch so vertraut klingende Instrument.
Erst die Beziehung des Klarinettenklanges zu den dumpfen Tönen machte diese zu denen eines Instrumentes. Ohne Klarinette wäre der Klang des Alphorns in der Vorstellung der Menschen der eines Schiffes geblieben, der wohl – wie im alltäglichen Leben – ausgeblendet würde. Der vertraute Klarinettensound machte den des Alphornes erst wahrnehmbar!“

„Ein tiefes Erlebnis war für mich, als wir unsere improvisierte Musik mit Alphorn, Klarinette und Fagott im Elbtunnel beendeten: Da hatte sich, ohne dass wir es hätten „wollen“ oder planen können, eine harmonische Rundung ergeben, in einem besonderen musikalischen Zusammenkommen. Als wäre die „Heiligkeit“ dieses Moments für alle Umstehenden offenbar, kam auch erst jetzt ein Wärter, der uns aufforderte, unsere Musik zu beenden, weil Straßenmusik an diesem Ort nicht erlaubt sei. Er sagte dies in freundlichem Ton, und auch ein kurzes Gespräch ergab sich. Wir hatten den Eindruck, dass unser Spielen wie „behütet“ oder geschützt war, zumal sich auch davor keinerlei Störungen einstellten.“

 

Hörort: Hamburger Innenstadt (verschiedene Orte)

„Ich konnte mich in den Lärm um mich herum hinein entspannen, mich hingeben.
Die vielen tausend Geräusche waren mir nicht zu viel , es war ok.
Ich musste mich nicht konzentrieren, habe sogar mehr wahrgenommen, weil ich gar nicht erst versuchte, alles zu hören.“